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Mein Bruder und seine Depressionen

Dreizehn
Benutzer20579  (40) Planet-Liebe ist Startseite
  • #1
Liebes Forum,
ich habe bestimmt seit Jahren keinen eigenen Thread mehr eröffnet, aber heute fühlt es sich danach an.

Ich habe ja hier schon öfter von den seelischen Problemen meines Bruders geschrieben und heute kommt es wieder alles so hoch. Er ist seelisch krank und das vermutlich schon seit Kindesbeinen. Diagnostiziert ist eine Hochbegabung, eine Karriere als klassischer Minderleister, er studiert seit Jahren, es wird einfach nicht besser. Letztes Jahr hatte ich hier geschrieben, als nach dem Urlaub feststand, dass es so nicht weitergeht. Er war so heftig drauf im Urlaub, 100 Launen wechselten sich ab, er musste seine Bachelorarbeit absagen, weil einfach nichts mehr ging. Ich war nach dem Urlaub relativ drastisch, dass seine Probleme größer sind, als gedacht, dass er Hilfe braucht.

Off-Topic:
Darauf hätte man schon kommen können, nachdem er in einen Urlaub vor 3 Jahren verkündete, nicht mehr Leben zu wollen, seine Existenz in Frage stellt und meine Mutter heulend im Ferienhaus stand - aber hey, danach konnten alle sich wieder zum Scrabblespielen am Tisch vereinen, war also nicht so schlimm. :rolleyes:


Seitdem ist wenig passiert. Er hat einige Wochen Antidepressiva von einem Psychiater bekommen, der ihm sagte, Therapie bräuchte er gar nicht erst versuchen, weil es keine Plätze gibt. Das ist für jemanden, der eh glaubt, dass ihm keiner helfen kann, natürlich ein toller Satz. :upsidedown: Von den Tabletten bekam er Magendarmprobleme und hat sie dann wieder abgesetzt.

Ich leide seit Jahren darunter, wie es ihm geht, aber auch darunter, was sein Verhalten mit mir macht. Meine Mutter z.B. ist selbst schwer krank, er geht aber nicht darauf ein. Sie braucht Hilfe beim Treppensteigen, er steht doof daneben und versteht nicht, was sie will, warum sie stehen bleibt. Letztes Jahr im Urlaub z.B. konnte sie auf unebenen Flächen nicht gut gehen, braucht mal jemanden, wo sie sich einhaken kann. Er steht genervt daneben, versteht nicht, was sie will. Jahrelang ist er bei sowas gerne auch aufbrausend und aggressiv, wird teilweise beleidigend - und versinkt bei Kritik in Selbstmitleid, verkündet, besser nicht geboren worden zu sein usw. Er fühlt sich stark als Alien und hat große Selbstzweifel, aber will sich eben auch nicht helfen lassen.

Er geht null auf die Kinder ein, erkundigt sich nicht nach ihnen. 2016 hat er seiner ersten Nichte Söckchen zur Geburt geschenkt und zum ersten Geburtstag ein Buch - das war es. Er hat uns nichts zur Hochzeit geschenkt, obwohl er Trauzeuge war. Die jüngere Tochter hat noch nie was von ihm bekommen, kein Mitbringsel, nichts. Er kreist um sich und seine Probleme, nimmt alles ein, saugt alles auf - und diskutiert im Wohnzimmer laut über seine Themen, ohne Rücksicht darauf, was sonst so passiert.

Heute war wieder so ein Tag... Wir hatten ihn zum Grillen eingeladen, vielmehr meine große Tochter. Sie hatte ihm eine Sprachnachricht geschickt. :smile: Er kam dann auch, ist ja nicht selbstverständlich. (Wie viele Tage haben wir schon mit Anrufen und "Kommt er auch?" verbracht, da er in einem recht verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus lebt, kommt man schwer dran). Den Kaffeetisch leitete er mit Gesprächen über Will Smith, den Haarausfall seiner Frau und "wie man seine Karriere so kaputtmachen kann, dass man jemanden auf offener Bühne schlägt" ein. Wir haben alle den Kontext nicht verstanden, uns gefragt, wie er jetzt darauf kommt? Wir wollten Smalltalk führen, die Großeltern mit ihren Enkeln quatschen, das Kleinkind beim Teilchenessen anschauen, die Geschichten der 5jährigen hören - keine Diskussionen über Will Smith und den Haarausfall seiner Frau. Er wurde zunehmend gereizter.

Der Nachmittag ging weiter, bei uns ist es eben laut und lebhaft mit zwei kleinen Kindern. Aber mein Bruder hört nicht auf zu reden. Er redet einfach irre laut, so laut, dass man ihn ein Stockwerk weiter durch die Decke hört. Ich bin wirklich geräuschempfindlich und sein Gehämmere löst bei mir Ohrenschmerzen und Kopfschmerzen aus. Teilweise habe ich nach den Treffen mit ihm ein pulssynchrones Pochen im Ohr. Wenn irgendwo ein Kind weint oder was möchte, spricht er lauter, als die Kinder sind. Er hält sein Handy in der Hand, zitiert Begebenheiten, politische Themen, die ihn interessieren. Oft ist sein Wissen veraltet oder mega oberflächlich, sodass ich ihm oft widerspreche. Montag bis Mittwoch war ich auf einer Konferenz, hatte zu bestimmten Themen neues Wissen. Er redet drüber mit Halbwissen, was er als ultimative Wahrheit darstellt. Irgendwann habe ich entnervt gesagt, dass ich auch mal erzählen könnte, was ich tatsächlich WEISS, kam nicht gut an. :ninja:

Dann hatte ich von einer Weihnachtsreise einen kleinen Engel am Handy kleben, er fragte uns im Spaß, warum wir Vampirkinder mit Trompeten am Handy haben. Mein Mann sagte - ebenfalls im Spaß - "Das ist ein Engel, du Heide!" Später sollte uns dieser Satz dann um die Ohren fliegen, weil wir ja ihn für so dumm halten, dass er nicht weiß, was ein Engel ist und ihn auch noch diesbezüglich belehren. Und man denkt sich WTF?

Naja, das Grillen war schön, das Essen war lecker. Trotzdem geht er auf nichts ein, was am Tisch passiert, ignoriert die Kinder, selbst wenn sie ihn ansprechen, würde niemals mal von selbst drauf kommen, einem was zu trinken einzugießen, einen Teller abzuräumen, Hilfe anzubieten. Er sitzt mit einem muffigen Gesicht in der Ecke, lamentiert wahlweise über anstrengende Themen, kann keinen Smalltalk - und wenn ein Kind was will, redet er lauter. (Ich hatte dazu vor knapp 2 Jahren mal was geschrieben, hier: https://www.planet-liebe.com/threads/männer-verwandte-der-auskotz-thread-teil-2.581300/post-14009883)

Irgendwann stand ich in der Küche, er textet mich zu, ich höre, dass das große Kind weint - und er meint völlig beiläufig: Ja, die ist eben von der Schaukel gefallen, da hat sich eine Schraube gelöst.... Warum sagt er mir das nicht direkt? Warum kommt er nicht damit rein? Ich verstehe es nicht. Hat mich natürlich auch genervt, ich bin direkt raus und meinte noch zu ihm, "Und du erzählst mir hier einen?!"

Er saß nach dem Essen auch nur so mit dem Handy rum - isst hier so mit, räumt keinen Teller ab, fragt nicht, ob er z.B. was mitbringen soll... mich ärgert das.

Am Ende war ich dann wieder draußen mit meiner Mutter, konnte mit ihr aber kein Wort wechseln, weil er so laut im Wohnzimmer mit meinem Vater gesprochen hat, dass ich sie nicht verstehen konnte. Ich habe dann reingerufen: "Schrei doch bitte nicht so, der Papa steht neben dir!"

Daraufhin hat er seine Sachen gepackt und ist gegangen. :frown: Ohne Verabschiedung, einfach so. Ich fands hart. Die Kinder waren irritiert, die Große weinte fast. :ratlos: Ist doch kacke.

Meine Eltern waren dann noch da, meine Mutter war den Tränen nahe. Mein Vater wollte ihn noch nach Hause fahren, hatte auch dran zu knabbern. Schuld bin ich, die böse Schwester. Das ist ja mein Leitmotiv, weil ich mich nicht beherrschen kann, mich nicht mehr so abgegrenzt kriege, dass ich nichts sage, wo alle anderen nichts sagen. Alle finden ihn anstrengend, alle finden ihn zu laut, keiner versteht diese kontextlosen Gespräche. Aber ich habe ihn nun verjagt. Und ich fühle mich einfach nur traurig. Habe viel Arbeit in einen schönen Grillabend gesteckt und das ist das Ergebnis.

Als ich vorhin mit meinen Eltern und den Kindern spazieren war, meinte mein Bruder zu meinem Mann, ich sei ja keinen halben Tag erträglich, es wäre ja so furchtbar mit mir. Und jetzt eben schreibt er meinem Mann über Whats App, dass er nicht versteht, wieso wir ihn einladen, wenn ich doch über jeden seiner Sätze laut aufstöhne und er doch offenbar nicht erwünscht ist.

Das Blöde ist: Ich verstehe es ja. Ich war heute morgen schon ziemlich genervt von den Kindern und gestresst von einer langen Woche, dass ich morgens schon mein eigenes Mindset auf: "Entspann dich, dein Bruder kommt heute" gesetzt hatte. Weil ich wusste, wie ich bin, wenn ich gestresst bin und er kommt. Ich habe mir Mühe gegeben. Aber der Lärmpegel ist so hart. Es ist nicht so, dass ich das sage, um ihn zu ärgern. Es fiel ja auch schonmal die Unterstellung, dass ich nur deshalb auf die Lautstärke so reagiere, weil ich nicht hören will, was er zu sagen hat und es psychosomatisch ist. Aber so ist es nicht - es ist einfach irre laut und es hämmert so.

Insgesamt macht es mir Sorgen, wie es weitergehen soll.

Er läuft seit Jahrzehnten als Trauerkloß durch die Gegend, studiert mit 33 immer noch auf Bachelor, obwohl er hochintelligent ist. Es ist so tragisch und traurig.

Meine Eltern haben jahrelang nicht gesehen, wie schlimm es ist. Nun haben sie eine Sendung über Depressionen gesehen und mein Vater, der sonst nie groß über Gefühle spricht, schaute mich heute an und sagte: "Ich habe es jahrelang nicht gesehen. Aber dein Bruder ist seit Jahren depressiv." Es hat mich so berührt, dass er das nun erkennen muss, mit Mitte 60. Es macht mich traurig. Sie bringen ihm Vitamin D mit, damit es ihm besser geht, mein Vater hat ihm auch angeboten, eine private Therapie zu zahlen, damit er nicht warten muss.

Wie hilft man so jemanden? Ich habe das Gefühl, ich bin im Moment die falsche Adresse, aber ich weiß auch einfach nicht mehr, wie ich damit umgehen soll. Ich möchte auch, dass meine Kinder einen Onkel haben. Einen, der mal was mitbringt, der an Geburtstage denkt, der nicht kurz vor Ostern die Nester leerisst (https://www.planet-liebe.com/threads/männer-verwandte-der-auskotz-thread-teil-3.602239/post-14495594) und dann verkündet, er hätte nicht wissen können, dass Ostern ist.

Mir tut es einfach weh und es ist ein weiterer Brocken, den ich so mit mir rumtrage und nicht weiß, wie ich ihn lösen soll. Es zu lösen, dafür fühle ich mich irgendwo verantwortlich.

Gleichzeitig möchte ich auch ein Mindestmaß an menschlichem Umgang erwarten können - für die Kinder, aber auch für mich. Warum nur kann man so empathiebefreit sein?

Ich meinte eben zu meinen Eltern, dass es natürlich naheliegend ist, dass jemand, der sich irgendwo in einem neurodiversen Spektrum bewegt, auch Depressionen entwickelt. Weil das jahrelange Gefühl als Alien natürlich dazu führt, dass man sich immer fremder und niedergeschlagener fühlt. Trotzdem fügt es eben auch mir Verletzungen zu. Und das ja nun auch schon seit einigen Jahren.

Ich weiß nicht genau, was ich mir von dem Thread erhoffe - für die gängigen Plauder- und Auskotzhreads war mir der Batzen nun einfach zu groß und es musste mal raus.

Ein großer Teil von mir möchte so gerne mal alles sagen, was in mir vorgeht. Ihm sagen, was ich erwarte. Aber gleichzeitig muss auch mal dringend ein Plan her, wie man ihm helfen kann - und da stehen wir alle hilflos daneben.
 
Schnecke106
Benutzer85763  Beiträge füllen Bücher
  • #2
Dreizehn Dreizehn Das hört sich sehr belastend und auch anstrengend an. Einfach mal :knuddel:

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Situation für alle sehr belastend ist. Vermutlich kann ich nicht wirklich etwas hilfreiches beitragen, aber vielleicht gibt es irgendwo unterstützende Angebote für Euch als gesamte Familie. Ich denke da an eine Art Coaching oder Gespräche mit einem Mediator oder etwas in der Richtung. Das kann ja auch (zunächst) ohne ihn sein.

Wie offen ist denn Dein Bruder generell bezüglich Therapie? Auf jeden Fall würde ich vermutlich versuchen ihn beim Suchen eines Therapieplatzes zu unterstützen und ihn ermutigen, es vielleicht noch einmal mit einem anderen Antidepressivum zu versuchen.

Ich habe keine Erfahrung mit Depressionen, aber so etwas in der Art könnte ich mir als erste Schritte für Hilfe gut vorstellen.
 
E
Benutzer98020  (38) Verbringt hier viel Zeit
  • #3
Ein großer Teil von mir möchte so gerne mal alles sagen, was in mir vorgeht. Ihm sagen, was ich erwarte. Aber gleichzeitig muss auch mal dringend ein Plan her, wie man ihm helfen kann - und da stehen wir alle hilflos daneben.
Wenn er nicht sieht, dass er ein Problem hat. dann könnt ihr ihm auch nicht helfen. Vielleicht solltet ihr euch einmal als Familie (ohne ihn) besprechen, wie ihr mit der Situation umgeht und ihn danach konfrontieren.
Es hilft ja niemandem, wenn du auf Dauer dann auch kaputt gehst.
 
Lotusknospe
Benutzer91095  Team-Alumni
  • #4
Ich vermute mal, du willst das jetzt nicht hören, aber du musst ihn so akzeptieren, wie er ist. Er will nicht Onkel sein für deine Kinder? Dann erwarte es nicht von ihm. Du kannst deine Vorstellungen von Verwandtschaftsverhältnissen nicht erzwingen. Er scheint kein Interesse zu haben, denen gerecht zu werden. Das musst du akzeptieren. Wenn er dann deiner Meinung nach unmöglich ist, lade ihn nicht mehr ein. Das Problem ist hier nicht seine Depression oder Neurodiversität, sondern deine Erwartungshaltung, wie er zu sein hat, und dass er es dann wieder nicht ist. Anscheinend will er nicht. Das ist sein gutes Recht.
 
Dreizehn
Benutzer20579  (40) Planet-Liebe ist Startseite
  • Themenstarter
  • #5
Auf jeden Fall würde ich vermutlich versuchen ihn beim Suchen eines Therapieplatzes zu unterstützen und ihn ermutigen, es vielleicht noch einmal mit einem anderen Antidepressivum zu versuchen.
Ja, ich denke, dass es in diese Richtung gehen wird - mein Vater möchte ihm ja auch eine private Therapie bezahlen, wenn damit keine Wartezeiten verbunden sind. Das ist ja schon ein sehr großzügiges Angebot und zeigt, dass in meiner Familie endlich (!) nach Jahren das Bewusstsein da ist, dass er ein Problem hat, was nicht mit Sport oder Vitamin D zu lösen ist. Seit Jahren wird mir vermittelt, dass ich "zu hart" bin, wenn ich mich abgrenze oder sage, wo es mir langt - für Verhalten, was völlig indiskutabel ist. Weil "so ist er eben". Meine Familie ist meisterhaft darin, danach wieder alles auf Reset zu setzen und von vorne anzufangen. Mein Bruder wirft meiner Mutter im Urlaub vor, dass sie ihn nicht hätte auf die Welt setzen sollen und er gar nicht leben möchte, meine Mutter weint - okay, danach eine Runde Scrabble. Mein Bruder hat in einem anderen Urlaub täglich 20 Launen und versaut anderen Leuten damit den Tag - egal, wenn er wieder gute Laune hat, essen wir alle was Schönes. Und wenn ich dann sage: "Wir können gerne zusammen zum See gehen, aber Thema XY bleibt im Ferienhaus, davon möchte ich heute nichts mehr hören!", bin ich diejenige, die Unruhe stiftet und einen strafenden Blick meiner Eltern kassiert. Das setzt mir halt zu.

Es ist doch interessant, wie sich zwei Leute auf jeweils ihrer Seite der Medaille als "schwarze Schafe" fühlen können, jeder aus anderen Gründen. :hmm:

Ich vermute mal, du willst das jetzt nicht hören, aber du musst ihn so akzeptieren, wie er ist. Er will nicht Onkel sein für deine Kinder? Dann erwarte es nicht von ihm. Du kannst deine Vorstellungen von Verwandtschaftsverhältnissen nicht erzwingen. Er scheint kein Interesse zu haben, denen gerecht zu werden. Das musst du akzeptieren. Wenn er dann deiner Meinung nach unmöglich ist, lade ihn nicht mehr ein. Das Problem ist hier nicht seine Depression oder Neurodiversität, sondern deine Erwartungshaltung, wie er zu sein hat, und dass er es dann wieder nicht ist. Anscheinend will er nicht. Das ist sein gutes Recht.
Das trifft den Punkt nicht so ganz. Er will ja "dazugehören", will Onkel sein, will hier dabei sein. Da sind auch meine Eltern teils mit "Schuld" - sie laden ihn mit ein oder bringen ihn mit, auch wenn ich ihn nicht einlade. Weil es ja unser Familienstamm sind, da gehört er mit dazu. Und dann hadert er damit, dass er "Alien" ist, aneckt, nervt und die überkritische Schwester ihn zu laut findet.

Überwiegend lade ich ihn schon gar nicht mehr ein. Weil es mir zu stressig ist, gerade mit den Kindern. Trotzdem kommt er meistens trotzdem - und außerdem gibt es bei uns eben viele Anlässe, wo wir uns begegnen. Mit Omas, Onkels, Tanten. Wenn er nicht da ist, vermisse ich ihn, bin aber auch erleichtert, weil es so stressfreier ist. Es ist nicht schwarz und weiß.

Außerdem gehen wir beide immer wieder davon aus, dass es heute wohl gehen wird und rasseln dann doch aneinander. Es sind eben mehrere Faktoren. Teils hält er sein Verhalten für normal, schiebt das Problem auf andere. Meine Ohren sind zu empfindlich, das ist nicht sein Problem. Niemand sonst hat ein Problem mit seiner Gesprächslautstärke. Das stimmt nicht, ich weiß es von unseren Omas, von meiner Tante, von meiner Mutter. Wir unterbrechen Gespräche, wenn er spricht, weil wir uns nicht aufeinander konzentrieren können. Gestern, als wir im Garten waren und er in der Küche. Er sagt dann, ich hätte halt empfindliche Ohren. Oder er belächelt unsere "oberflächlichen" Gespräche über Urlaub, gemeinsame Bekannte oder "Wer ein Eichhörnchen im Garten hatte", findet es lächerlich, dass wir nur über Unfug reden - und geht dann mit Weltuntergang, Putin oder einer Anekdote aus den Weiten des Internets dazwischen. Das irritiert ja nicht nur mich und ich finde es auch gerade den Kindern gegenüber schwierig.

Nach so einem Tag wie gestern ist er persönlich getroffen und traurig, sitzt heulend zu Hause wegen dem gestrigen Nachmittag. Früher haben wir uns dann stundenlang über sowas unterhalten, gerne wurde er beleidigend, das musste ich dann an mir abprallen lassen. Denn wenn ich darauf je so eingegangen wäre, wie er es tut, hätten wir bestimmt schon keinen Kontakt mehr - also habe ich häufig eingelenkt. Eben weil mir seit dem 5. Lebensjahr eingeimpft wurde, dass ich Verständnis für meinen Bruder haben muss und mich zurücknehmen muss.

Dass ich dazu nicht mehr bereit bin, hat jahrelang den Familienfrieden "gestört". Ich erinnere mich an ein episches Frühstück irgendwann Pfingsten, als mein Bruder völligen Unfug redete und mein Mann sich einmischte. Damals ging es um Jobs und Studium usw. und dazu, dass mein Mann gerade keinen Job hatte. Die Weisheit mit Löffeln gefressen und absolut selbstherrlich. Mein Mann war dann auch sauer und meinte was, dass er ja nun selbst seit Jahren ohne Nebenjob studiere, weil er alles von meinen Eltern finanziert bekommt und gar keine Ahnung hat, wie es im echten Erwerbsleben aussieht. Da wurde mein Mann von meinem Vater zusammengefaltet, was ihm einfiele, so mit meinem Bruder zu reden. (Und mein Vater ist so der Inbegriff der Ruhe, wird einmal in 10 Jahren sauer und spricht grundsätzlich nicht über sein Seelenleben, hat aber dafür lauter und leiser werdenden Tinnitus.) Seit Jahren wurde mein Bruder in Watte gepackt, keiner durfte was sagen und wenn, waren wir der Störenfried.

Es ist nicht MEINE Erwartungshaltung, die ich da als Problem ansehe. Sondern für mich (!) ist das Problem die Erwartungshaltung, die die ganze Familie an mich heranträgt, dass ich nichts dazu sagen soll. Weil ich doch weiß, wie er ist. Weil ich die Probleme nicht hatte. Dass ich mich als "gute Schwester" zusammenreißen muss, weil ihm doch alles so schwerfällt. Das sind für mich harte Glaubenssätze, die ich auch erstmal ablegen muss und die dazu führen, dass ich permanent ein schlechtes Gewissen habe. Gegenüber meinen Eltern und ihm gegenüber. Weil es mir nicht gelingt, mich zurückzunehmen und ich es nicht schaffe, "einfach mal nichts" zu sagen.

Jetzt endlich ändert sich das Kleinreden der Probleme, auch mein Vater ist in den letzten Jahren deutlicher geworden. Dass er gesagt hat, dass mein Bruder depressiv ist und er das lange Zeit nicht verstanden hat, ist echt ein Meilenstein in der Familiengeschichte.

Mein Bruder und ich haben gestern noch lange Nachrichten ausgetauscht, er hat heute bei uns angerufen. Sich bei der Großen für seinen Abgang entschuldigt und dann eine Stunde mit meinem Mann telefoniert. Mein Mann war auch recht deutlich, wie er die Sache sieht und hat viele Dinge gesagt, über die ich dankbar bin, dass es endlich mal raus ist.

Es ist in den letzten Jahren teilweise echt komisch abgedriftet. Er liest nur noch Paper über den Weltuntergang und den Klimawandel, bis er Panik davon bekommt. Liest kaum "normale" Nachrichten, nur alternative Formate und baut sich dann was zusammen, was total pessimistisch und gruselig ist. Und gibt es dann bei jeder Familienfeier zum Besten, während andere sich über die Katze, die Kinder und die Blumen im Garten unterhalten. Ich erwarte nicht, dass ich einen "normalen" Bruder bekomme. Dass das nicht so ist, ist etwas, was mich traurig macht und womit ich klarkommen muss. Aber ich erwarte - ja, das tue ich - dass jemand, der zu uns ja im übrigen auch engen Kontakt möchte, die Basics menschlichen Miteinanders lernt und sie hier auch anwendet. Da geht es um nicht viel und nicht darum, dass hier alles perfekt läuft. Aber besser als so, wie es läuft, sollte drin sein (und da wäre es interessant zu wissen, wie es z.B. mit vernünftiger Medikamentierung und einer Therapie aussieht und wie sich das auf unsere Dynamik auswirkt).

Ich habe ihm das gestern klar gesagt: Es sind zwei Dinge. Das eine ist die Tatsache, dass er Hilfe braucht, dass er Therapie braucht. Das andere ist, was ich hier an Umgang und an Miteinander brauche, wenn er hierher kommt. Dass er die Kinder vernünftig begrüßt, dass er vielleicht mal ein Mitbringsel dabei hat, dass er nicht in die Wohnung schlurft und irgendwann geht und die Tür hinter sich zu zieht. Wenn das eine Erwartungshaltung ist, die ein "Problem" ist, bitteschön. Es ist die Erwartungshaltung, die ich hier habe, wenn man mich besuchen kommt und ich den halben Tag Essen serviere und die Familie bespaße.

Ein Beispiel war eben auch, dass er mir nach 48 Stunden Kinderherzintensiv was über DNS-Adressen in China schreibt. Ich schreibe ihm zurück, dass ich dafür gerade keinen Nerv habe, weil ich auf der Kinderherzintensiv sitze, bekomme ein "ok." zurück. Das finde ich maximal unempathisch und das ist mir zu wenig - gerade von jemandem, der selbst so empfindlich ist, wenn ich nur gefühlt mit den Augen rolle. Er schrieb mir dann, da wäre nichts unemapthisches dran - und außerdem hätte er nicht wissen können, wann die Herz-OP meiner Tochter ist. Ich schrieb ihm dazu, dass genau DAS das Problem ist - und das ich nicht mehr dazu bereit bin, mit "Das konnte er nicht wissen" weiterzumachen, wenn die OP seit 4 Monaten Dauerthema in der Familienwhatsappgruppe, jedem Treffen und jedem Telefonat ist. Mein Verständnis ist da aufgebraucht.

Das Gespräch empfand ich nun aber als klärend - und ich bin meinem Mann dankbar, dass er es übernommen hat. Mit mir persönlich wollte er nicht sprechen - aber er hat sich die Große geben lassen und sich entschuldigt und mir danach eine Sprachnachricht geschickt. Da wir beide emotional aufgewühlt sind, muss das erstmal reichen, mich kostet es auch viel Kraft und ich möchte heute nicht mit ihm telefonieren.
 
Zuletzt bearbeitet:
F
Benutzer81568  (38) Verbringt hier viel Zeit
  • #6
Einfach einmal eine Frage bzw. eine Hypothese:

Könnte es sein, dass er im Spektrum ist, also eine Autismus-Spektrums-Störung hat? Ein Asperger ist?
Ich kenne eine Aspergerin oberflächlich, die auch die Lautstärke nicht anpassen kann, dauernd zu laut spricht. Von daher kann ich dir nachfühlen, denn von ihr muss ich mich auch oft distanzieren, denn sie ist mir schlicht zu laut (und auch zu jammerig, und sie wickelt alle um den Finger und lässt sich von ihnen einladen.)

Und die Schwierigkeit im sozialen Umgang ist ja auch ein Thema, dass viele Asperger betrifft.
Wäre dies eine Option?

LG fröschlein
 
Dreizehn
Benutzer20579  (40) Planet-Liebe ist Startseite
  • Themenstarter
  • #7
Einfach einmal eine Frage bzw. eine Hypothese:

Könnte es sein, dass er im Spektrum ist, also eine Autismus-Spektrums-Störung hat? Ein Asperger ist?
Ich kenne eine Aspergerin oberflächlich, die auch die Lautstärke nicht anpassen kann, dauernd zu laut spricht. Von daher kann ich dir nachfühlen, denn von ihr muss ich mich auch oft distanzieren, denn sie ist mir schlicht zu laut (und auch zu jammerig, und sie wickelt alle um den Finger und lässt sich von ihnen einladen.)

Und die Schwierigkeit im sozialen Umgang ist ja auch ein Thema, dass viele Asperger betrifft.
Wäre dies eine Option?

LG fröschlein
Ja, das hatte ich im Eingangspost ja geschrieben, dass ich glaube, dass es in diese Richtung geht. Es wurde aber nie diagnostiziert, auch wenn ihm als Kind autistische Züge attestiert wurden.
 
banane0815
Benutzer44981  Planet-Liebe Berühmtheit
  • #8
Fassen wir es mal ganz grob und extrem vereinfacht zusammen: Dein Bruder ist sehr "speziell" und in der ganzen Familie hat sich eine unschöne Dynamik um das Verhalten deines Bruders herum entwickelt: Du kannst nicht gut mit seiner speziellen Art umgehen. Und deine Eltern packen ihn in Watte, nehmen ihn in Schutz und erwarten, dass du da mitspielst, was du wiederum nicht kannst und willst.
Das ist natürlich eine verfahrene und für alle Beteiligten belastende Situation und auch nichts, was sich so schnell und einfach lösen lässt.

Aber wie auch immer die Situation nun konkret aussieht, solltest du dir wohl doch vor allem mal überlegen, wo du persönlich ansetzen kannst und wo du persönlich und alleine einfach nicht viel tun kannst. - Unabhängig von allen Gedanken daran, wer was hoffen und erwarten kann oder darf, wer an was schuld ist, wer wem den schwarzen Peter zuschiebt, usw., was sich in dieser verfahrenen Situation ja sowieso nicht wirklich aufdröseln lässt:

Kannst du das Verhalten deines Bruders oder auch seine Gedanken und Emotionen beeinflussen? - Nein. Du kannst ihm nur sagen, was du dir von ihm wünschst, aber ob er diese Wünsche erfüllen kann und will, ist dann schon wieder eine ganz andere Sache.
Kannst du das Verhalten deiner Eltern und deren Gedanken und Emotionen beeinflussen? - Nein. Es ist zwar schön, dass sich auch bei deinen Eltern etwas ändert. Aber das liegt nicht direkt in deiner Macht, sondern du kannst höchstens versuchen, sie in Gesprächen in dieser Entwicklung zu unterstützen und bestärken.
Das Einzige, was du direkt beeinflussen kannst, ist dein Verhaltenund dein Umgang mit der ganzen Situation.

Ich könnte mir vorstellen, dass es für dich hilfreich wäre in deinem Einflussbereich, ganz klare Grenzen zu ziehen und diese dann auch durchzusetzen, um Eskalationen im Umgang mit deinem Bruder zu vermeiden.
Wenn du z.B. die laute und anstrengende Art deines Bruders zwei Stunden lang ganz gut ertragen kannst, bevor es dir zu viel wird, dann schau, dass du die Treffen auf maximal zwei Stunden begrenzt, kündige das Zeitlimit vorher an und setze es auch durch, indem du gehst oder ihn hinauskomplimentierst.
Wenn du nicht willst, dass deine Eltern deinen Bruder ungefragt mitbringen, dann sag es ihnen und setze das auch durch - selbst wenn sie davon vielleicht angepisst sind und es nicht verstehen.
Natürlich ist das alles nicht einfach. Aber es ist etwas, das tatsächlich komplett in deinem Einflussbereich liegt.

Natürlich kannst du dir zusätzlich auch noch überlegen, ob du deinem Bruder irgendwie helfen kannst. Aber das würde ich erst einmal hinten anstellen, bis du mit den Mitteln, die dir tatsächlich zur Verfügung stehen (also Veränderung deines Verhaltens und deinesm Umgangs mit der ganzen Thematik) einen Weg gefunden hast, besser mit der ganzen Sache umzugehen und die immer wieder in ähnlicher Art aufkommenden Konflikte zu verhindern oder zu entschärfen.
Wenn du tatsächlich für dich einen besseren Umgang mit der ganzen Geschichte gefunden hast, hast du vielleicht auch mehr Energie und Kapazität, um deinem Bruder zu helfen.
 
F
Benutzer81568  (38) Verbringt hier viel Zeit
  • #9
Sorry, ich habe es nicht so wahrgenommen und herausgelesen.
Aber falls er bereit ist, wäre es doch eine Option, eine solche Abklärung nachzuholen und zu veranlassen.
Bei einer eventuellen Diagnostizierung würde es sicherlich viele seiner Schwierigkeiten klären und ihm weitere Türen öffnen und Unterstützung ermöglichen.
Denn so, wie ich rauslese, scheint er nicht abgeneigt zu sein, er hütet euer Haus, sorgt sich um die Katze und füttert sie. Er scheint euch halt doch gerne helfen zu wollen.
Vielen Menschen, die im Spektrum sind, fällt das zwischen den Zeilen lesen schwer, einfachste gesellschaftliche Regeln sind Stolpersteine, die oft auch ihnen nicht leicht fallen.

Daher würde ich an deiner Stelle versuchen, meine Erwartungen und wünsche an Ihn klar zu deklarieren.
Also wenn er an den Geburtstag seiner Nichte eingeladen ist, ihm dies mitzuteilen und ihm zu sagen, dass sich die Nichte über ein kleines Mitbringsel freut und sie aktuell gerne "das oder das" mag und wo er es möglicherweise besorgen kann. Halt je nach dem wo er ansteht (also kann er so etwas besorgen, oder ist er überfordert, da er die Bedürfnisse und Wünsche eines Kindes schlicht nicht kennt.).

Und immer Step by Step, nur 1-2 Punkte, ihn nicht überfordern.
Und auch Gefühle klar mitteilen, viele Asperger können mit der Aussage, "ich kann grad nicht, sitze in der Kinderherzintensiv" nicht viel anfangen. Eher mit einer Botschaft wie, "es tut mir leid, aktuell habe ich meinen Kopf nicht frei, denn ich mache mir gerade grosse Sorgen um meine Tochter (nehme ich an), weil ihr Herz unregelmässig schlägt und es ihr nicht gut geht. Und mir auch nicht, weil diese Anspannung und Sorge an mir nagt. Ich brauche gerade meine Ressourcen selbst, aber wenn du helfen willst, kannst du ljklj zu liebe tun."
Sie brauchen einfach klare Worte, die Gefühle umschrieben, weil das zwischen den Zeilen lesen nicht geht oder vieles verunsichert und Asperger dann nicht wissen, was sie tun sollen, überfordert sind und dann lieber gar nicht reagieren und vergessen, dass dies auch eine sehr verletzende Vorgehensweise ist.
Ich denke wichtig ist es, auf deine Gefühle und Grenzen zu achten, deine Ressourcen gut einzuteilen und klar zu kommunizieren. Allenfalls auch zu erklären, warum du dies so wahrnimmst.

Aber ja, sicherlich eine schwierige Situation, und sicherlich auch für deinen Bruder.

Ich hoffe, ihr könnt einen guten Umgang miteinander finden.
LG fröschlein
 
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